Die Kunst des Loslassens

Es ist wieder soweit: Kürbisse, Pilze und Igel überall – der Herbst ist da. Zwischen Pumpkin Spice Latte und nerviger Halloweendekoration ist es manchmal schwierig, das Offensichtlichste des Herbstes zu bestaunen: die Bäume. Während wir uns in Schals wickeln und über das frühe Dunkel klagen, beginnen sie mit einer stillen, bewundernswerten Geste – sie lassen los. Blatt für Blatt geben sie ab, was sie nicht mehr brauchen. Kein Drama, kein Festhalten, kein Widerstand.

Vielleicht ist das genau die Lektion, die der Herbst uns jedes Jahr anbieten will. Wir Menschen tun uns schwer mit dem Loslassen. Wir halten fest an Dingen, Menschen, Gewohnheiten, sogar an Saucen im Kühlschrank, die längst abgelaufen sind, aber «man weiss ja nie».

Die Bäume wissen es besser. Sie wissen, dass man Platz schaffen muss, um im Frühling wieder austreiben zu können. Dass Loslassen kein Verlust ist, sondern Voraussetzung für Neubeginn. Und während wir mit Laubbläsern versuchen, die Ordnung zu bewahren, zeigt uns die Natur, dass Schönheit im Chaos liegen kann – im Fallen, im Vergehen, im Wandel.

Vielleicht sollten wir in diesem Herbst weniger festhalten und weniger planen. Einfach mal das Handy in die Tasche stecken, den Kaffeebecher abstellen und stattdessen stehen bleiben, dem Rascheln zuhören und ein Blatt fallen lassen – in der Hoffnung, dass wir selbst ein Stück leichter werden.

Michèle Tanner, Sozialdiakonin i.A.