«Ir Ysebahn» vo Mani Matter

Sie kennen vermutlich das Lied «Ir Ysebahn» von Mani Matter. Er stellt darin die Frage aller Zugreisenden: sitzt man besser in oder entgegen der Fahrtrichtung?
In berndeutscher Mundart beschreibt er die Situation des Einen: derjenige, der in Fahrtrichtung sitzt, erspäht bereits früh, was noch kommen wird. Und er dreht all dem den Rücken zu, was schon war. Der Andere, der gegenüber sitzt, sieht noch lange, was schon vorbei ist. Dabei dreht er all dem den Rücken zu, was noch kommt. Er sieht nicht, wohin der Zug unterwegs ist.

Die beiden streiten nun darüber, wessen Sichtweise die richtige sei. Jeder meint, er sehe das, was wirklich der Realität entspricht. Sie schaffen es nicht, beide Perspektiven zusammen zu führen. Fehlt ihnen die Vorstellungskraft für die Erfahrungswelt des anderen? Die Phantasie? Können oder wollen sie sich nicht vorstellen, dass der Blick aus dem gleichen Fenster verschiedene Sichtweisen bringt? Vielleicht würde eine Portion Neugierde für das Erleben des anderen helfen. Vielleicht sollten die beiden für einen Moment die Plätze tauschen.

Diese Geschichte erinnert mich daran, dass die Realität aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann und dass Verständnis und Akzeptanz anderer Perspektiven zu einem harmonischen Miteinander führen können. Letztlich sind es die Vorstellungskraft und die Bereitschaft, Neues zu erfahren, die uns helfen, die Welt in ihrer gesamten Vielfalt ein Stück besser zu begreifen.

Pfarrerin Annina Rast