Eine Passionsgeschichte

Neulich sass ich am Sterbebett. Vor mir lag ein Mann, den ich aus der Gemeinde kannte. In besseren Zeiten hatten wir oft miteinander gejasst und es gut gehabt. Ich wusste, dass zu seinem Leben einige brutal traurige Schicksalsschläge gehörten. Die hatten ihn skeptisch werden lassen: skeptisch gegenüber der Welt, sich selber und auch dem lieben Gott. Ich gestehe, dass mir solche Menschen liegen. Eine Prise Skepsis halte ich für eine Tugend, ja sogar für eine christliche. Im Leben ist das gewiss so, aber wie ist es im Sterben? Auch mein Gegenüber schien diese Frage umzutreiben. Er erzählte, dass er ständig ein Lied aus seiner Kindheit im Ohr habe: «Gott ist die Liebe, er liebt auch mich.» Ob denn das so stimme? Manchmal ist die Frage bereits die Antwort. Ich bot ihm an, ein Gebet zu sprechen. Er hatte nichts dagegen. Und so beteten wir den uralten Psalm, der von der Liebe Gottes handelt: «Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.» Als wir geendet hatten, schaute der alte Mann mich mit grossen Augen an: «Gell, jetzt sind wir zu dritt?» Ich begriff nicht und fragte verwundert zurück, was er damit meine. Aber Jesus habe das doch so gesagt, erklärte mir der Mann: «Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter euch.» Da konnte ich nur noch Amen sagen. Ja, er ist mitten unter uns.

Pfarrer Markus Perrenoud